DIE PRESSE
Montag, 21. August 1989, Seite 3

"Herr Honecker sollte sich das hier ansehen"
Die "paneuropäische" Massenflucht von DDR-Bürgern nach
Österreich - Souvenirs vom Eisernen Vorhang

Massenflucht und geordneter Rückzug. Die ungarischen Grenzsoldaten waren im Menschengewühl beim ansonsten gesperrten Grenzübergang zwischen Fertõrákos und St. Margarethen chancenlos: Auch Magyaren hatten es darauf angelegt, ohne Kontrolle nach Österreich zu gelangen.

(Funkbilder: "Die Presse"/ap (Votava))


(Von Tibor Fényi und Peter Martos)
SOPRON/RUST.
"Herr Honecker sollte kommen und sich das hier ansehen - aber da trifft ihn wahrscheinlich der Schlag!" Der DDR-Bürger, der das in die Kamera des wartenden bundesdeutschen TV-Teams sagt, ist seit wenigen Sekunden ein Ex-DDR-Bürger: Ihm ist in der Wüstenei zwischen dem ungarischen Sopronkõhida und dem burgenländischen St. Margarethen soeben die Flucht gelungen. Wie Hunderten "Mitbürgern" auch. Gelegenheit dazu bot das "Paneuropäische Picknick", das von der ungarischen Opposition auf einer Wiese in der ehemaligen Sperrzone veranstaltet wurde. Schon bei der Anfahrt aus Sopron wundern sich die Magyaren in unserem Wagen über die vielen Trabants, Wartburgs und Škodas mit DDR-Kennzeichen. "Die werden sicher nicht zum Picknick gelassen!" Rund um das riesige Gefängnisgelände von Sopronkõhida stehen Dutzende ostdeutsche Wagen; die Insassen sind unterwegs zur fünf, sechs Kilometer entfernten Grenze. Das Festgelände ist von Autos übersät, Weiterfahren ist nur im Schrittempo möglich. Zwischen Zelten, in denen Getränke und alle Arten von pörkölt (Gulasch) verkauft werden, braten junge Leute Speck auf offenem Feuer. Die Hauptveranstalter, der Bund Freier Demokraten und die Leiter des Demokratischen Forums aus dem ostungarischen Debrecen, verkaufen Bücher und Plakate. Trinkfreudige Burgenländer tragen zur Volksfeststimmung bei; sosehr, daß die geplanten Ansprachen verschoben werden müssen, bis der Nachmittagsregen sie vollends unmöglich macht. Tochter und Sohn Otto Habsburgs sind vergeblich gekommen, auch Schriftsteller György Konrád kann seine "Gedanken an der Grenze" nicht vortragen. Eine Botschaft des im Siebenbürger Temesvár (Timisoara) unter Hausarrest gestellten reformierten Pfarrers László tõkés bleibt den Massen ebenfalls unbekannt: "Bei uns will der Wahnsinn statt dem Eisernen Vorhang Dörfer zerstören... Wir bleiben zu Hause, sind aber mit Euch." Rumänen wagen sich nicht her, dafür Hunderte DDR-Bürger. Eine junge Frau rechtfertigt sich: "Da sind so viele Ostdeutsche vorbei, da muß man schon betonen: Wir sind aus Westberlin!" In Waldstreifen, auf Feldwegen, mitten über Äcker ziehen die Massen Richtung Stacheldraht. Gegen 15 Uhr ist der einst undurchdringliche Eiserne Vorhang schon arg zerzaust. Die Organisatoren des Picknicks hatten eigentlich geplant, erst nach Verlesung der Botschaften Otto Habsburgs und des ungarischen Staatsministers Imre Pozsgay zum Übergang aufzubrechen und symbolisch die Grenze zu zerstören. ("Reiße ab und nimm mit!", stand auf den Einladungen, mit dem Versprechen, Zertifikate über die Echtheit des "selbstgepflückten" Stücks Stacheldraht zu verteilen.) Doch die Ereignisse überstürzen sich. Noch bevor die Massen den ehemaligen, mit einem Gittertor gesicherten Übergang erreichen, nähert sich eine fast 200köpfige Gruppe mit ungarischen Fahnen den dort postierten Grenzoffizieren. Diese haben das 40 Jahre vor sich hinrostende Vorhängeschloß gerade aufgesperrt - und schon werden sie überrannt. Sie hatten geglaubt, es handle sich um eine Vorausabteilung der Picknick-Veranstalter. Bis die armen Beamten merken, worum es geht, sind die Ostdeutschen "drüben" angelangt, wo sie von TV-Teams und drei Bussen erwartet werden. Ihre Reise geht sogleich weiter zur Wiener Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Der Feldweg inmitten eines Waldstücks, der das Niemandsland bildet, füllt sich allmählich mit Menschen. Burgenländer "wollen einmal im Leben ohne Kontrolle nach Ungarn"; Magyaren drängen sich am weit geöffneten Gittertor und an den eifrig stempelnden ungarischen Beamten vorbei - dorthin, von wo Blasmusik über die Grenze klingt. Eine Kapelle zieht die Aufmerksamkeit nicht nur der österreichischen Grenzer, sondern auch der Ungarn in ihren weißen Uniformhemden aufsich. Und plötzlich teilt sich die Menge - die ersten zehn, zwölf DDR-Bürger fallen einander im Niemandsland um den Hals. "Wir hatten gehört, daß die Leute aus der Budapester BRD-Botschaft hergebracht werden", erzählt weinend Horst B. "Nischt wie hin, sagte Karen. Mit'm Auto ging's nich, also haben wir's in Ödenburg steh'nlassen. Seit dem Morgen haben wir uns dort hinten im Wald versteckt." Vor Angst schwitzend, vom Regen durchnäßt, näherten sie sich dem Übergang. "Da waren solche Massen, daß wir einfach drufflosgegangen sind. Die Ungarn haben einfach weggeschaut!" Nicht bei allen. Plötzlich wird das Gittertor zugeschoben, fast hundert Menschen rufen empört durcheinander. "Aber wir dürfen doch bis sechs Uhr hinüber", tönt es auf Ungarisch: "wie kumm' i jetzt ham?" fragt ein Burgenländer; "Schweine!", ruft eine junge Ostdeutsche. Was ist geschehen? "Der war schon fünfmal da und hat immer eine Gruppe losgeschickt", zeigt ein ungarischer Grenzoffizier aufeinen Mann in grauer Windjakke. "Das ist ein Schlepper." Seine "Schutzbefohlenen" sind die einzigen, die zurückgeschickt werden. Dann kommt ein junges Pärchen an den Beamten vorbei, Minuten darauf eine zehnköpfige Gruppe - alle beginnen zu tanzen. "Frei, endlich frei!" Manche wollen wissen, wo sie sich in Österreich melden sollen, aber die meisten sind schon informiert: "In Mörbisch und Trausdorf werden Fahrten nach Wien organisiert." Viele dürfen in Kleinbussen der Gendarmerie mitfahren, auch die Blaskapelle lädt Flüchtlinge auf. Bauern gehen rufend auf und ab: "Wer will nach Rust?" Jenseits des Gittertors warten die "Weißhemden" auf den Dienstschluß. Eine junge Frau führt die Tochter an der Hand, spaziert seelenruhig an den ermüdeten Beamten vorbei. Der Vorgesetzte in Zivil versucht diese zu beruhigen: "In einer halben Stunde ist alles vorbei, dann sperren wir zu." Ob er weiß, wie viele DDR-Bürger über die Grenze sind? "Was? Hier doch nicht!" Die Morgenblätter hätten doch veröffentlicht, daß das Passieren der Grenze ohne Paß verboten sei. Der Berischterstatter zeigt ihm den Paß: kein Stempel. "Moment, dann muß ich Sie zurückschicken! Sind Sie von Sopron oder aus Österreich gekommen?" An diesem Tag hat die Grenzwache den Überblick verloren. Oder nicht gesucht?


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