DIE PRESSE |
"Herr Honecker sollte sich das hier ansehen"
Die "paneuropäische" Massenflucht von DDR-Bürgern nach
Österreich - Souvenirs vom Eisernen Vorhang
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Massenflucht und geordneter Rückzug. Die ungarischen Grenzsoldaten waren im Menschengewühl beim ansonsten gesperrten Grenzübergang zwischen Fertõrákos und St. Margarethen chancenlos: Auch Magyaren hatten es darauf angelegt, ohne Kontrolle nach Österreich zu gelangen. (Funkbilder: "Die Presse"/ap (Votava)) |
(Von Tibor Fényi und Peter Martos)
SOPRON/RUST.
"Herr Honecker sollte kommen und sich das hier ansehen
- aber da trifft ihn wahrscheinlich der Schlag!" Der DDR-Bürger,
der das in die Kamera des wartenden bundesdeutschen TV-Teams sagt, ist
seit wenigen Sekunden ein Ex-DDR-Bürger: Ihm ist in der Wüstenei
zwischen dem ungarischen Sopronkõhida und dem burgenländischen
St. Margarethen soeben die Flucht gelungen. Wie Hunderten "Mitbürgern"
auch. Gelegenheit dazu bot das "Paneuropäische Picknick",
das von der ungarischen Opposition auf einer Wiese in der ehemaligen Sperrzone
veranstaltet wurde. Schon bei der Anfahrt aus Sopron wundern sich die Magyaren
in unserem Wagen über die vielen Trabants, Wartburgs und Škodas mit
DDR-Kennzeichen. "Die werden sicher nicht zum Picknick gelassen!"
Rund um das riesige Gefängnisgelände von Sopronkõhida
stehen Dutzende ostdeutsche Wagen; die Insassen sind unterwegs zur fünf,
sechs Kilometer entfernten Grenze. Das Festgelände ist von Autos übersät,
Weiterfahren ist nur im Schrittempo möglich. Zwischen Zelten, in denen
Getränke und alle Arten von pörkölt (Gulasch) verkauft werden,
braten junge Leute Speck auf offenem Feuer. Die Hauptveranstalter, der
Bund Freier Demokraten und die Leiter des Demokratischen Forums aus dem
ostungarischen Debrecen, verkaufen Bücher und Plakate. Trinkfreudige
Burgenländer tragen zur Volksfeststimmung bei; sosehr, daß die
geplanten Ansprachen verschoben werden müssen, bis der Nachmittagsregen
sie vollends unmöglich macht. Tochter und Sohn Otto Habsburgs sind
vergeblich gekommen, auch Schriftsteller György Konrád kann
seine "Gedanken an der Grenze" nicht vortragen. Eine Botschaft
des im Siebenbürger Temesvár (Timisoara) unter Hausarrest gestellten
reformierten Pfarrers László tõkés bleibt den
Massen ebenfalls unbekannt: "Bei uns will der Wahnsinn statt dem Eisernen
Vorhang Dörfer zerstören... Wir
bleiben zu Hause, sind aber mit Euch." Rumänen wagen sich nicht
her, dafür Hunderte DDR-Bürger. Eine junge Frau rechtfertigt
sich: "Da sind so viele Ostdeutsche vorbei, da muß man schon
betonen: Wir sind aus Westberlin!" In Waldstreifen, auf Feldwegen,
mitten über Äcker ziehen die Massen Richtung Stacheldraht. Gegen
15 Uhr ist der einst undurchdringliche Eiserne Vorhang schon arg zerzaust.
Die Organisatoren des Picknicks hatten eigentlich geplant, erst nach Verlesung
der Botschaften Otto Habsburgs und des ungarischen Staatsministers Imre
Pozsgay zum Übergang aufzubrechen und symbolisch die Grenze zu zerstören.
("Reiße ab und nimm mit!", stand auf den Einladungen, mit
dem Versprechen, Zertifikate über die Echtheit des "selbstgepflückten"
Stücks Stacheldraht zu verteilen.) Doch die Ereignisse überstürzen
sich. Noch bevor die Massen den ehemaligen, mit einem Gittertor gesicherten
Übergang erreichen, nähert sich eine fast 200köpfige Gruppe
mit ungarischen Fahnen den dort postierten Grenzoffizieren. Diese haben
das 40 Jahre vor sich hinrostende Vorhängeschloß gerade aufgesperrt
- und schon werden sie überrannt. Sie hatten geglaubt, es handle sich
um eine Vorausabteilung der Picknick-Veranstalter. Bis die armen Beamten
merken, worum es geht, sind die Ostdeutschen "drüben" angelangt,
wo sie von TV-Teams und drei Bussen erwartet werden. Ihre Reise geht sogleich
weiter zur Wiener Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Der Feldweg
inmitten eines Waldstücks, der das Niemandsland bildet, füllt
sich allmählich mit Menschen. Burgenländer "wollen einmal
im Leben ohne Kontrolle nach Ungarn"; Magyaren drängen sich am
weit geöffneten Gittertor und an den eifrig stempelnden ungarischen
Beamten vorbei - dorthin, von wo Blasmusik über die Grenze klingt.
Eine Kapelle zieht die Aufmerksamkeit nicht nur der österreichischen
Grenzer, sondern auch der Ungarn in ihren weißen Uniformhemden aufsich.
Und plötzlich teilt sich die Menge - die ersten zehn, zwölf DDR-Bürger
fallen einander im Niemandsland um den Hals. "Wir hatten gehört,
daß die Leute aus der Budapester BRD-Botschaft hergebracht werden",
erzählt weinend Horst B. "Nischt wie hin, sagte Karen. Mit'm
Auto ging's nich, also haben wir's in Ödenburg steh'nlassen. Seit
dem Morgen haben wir uns dort hinten im Wald versteckt." Vor Angst
schwitzend, vom Regen durchnäßt, näherten sie sich dem
Übergang. "Da waren solche Massen, daß wir einfach drufflosgegangen
sind. Die Ungarn haben einfach weggeschaut!" Nicht bei allen. Plötzlich
wird das Gittertor zugeschoben, fast hundert Menschen rufen empört
durcheinander. "Aber wir dürfen doch bis sechs Uhr hinüber",
tönt es auf Ungarisch: "wie kumm' i jetzt ham?" fragt ein
Burgenländer; "Schweine!", ruft eine junge Ostdeutsche.
Was ist geschehen? "Der war schon fünfmal da und hat immer eine
Gruppe losgeschickt", zeigt ein ungarischer Grenzoffizier aufeinen
Mann in grauer Windjakke. "Das ist ein Schlepper." Seine "Schutzbefohlenen"
sind die einzigen, die zurückgeschickt werden. Dann kommt ein junges
Pärchen an den Beamten vorbei, Minuten darauf eine zehnköpfige
Gruppe - alle beginnen zu tanzen. "Frei, endlich frei!" Manche
wollen wissen, wo sie sich in Österreich melden sollen, aber die meisten
sind schon informiert: "In Mörbisch und Trausdorf werden Fahrten
nach Wien organisiert." Viele dürfen in Kleinbussen der Gendarmerie
mitfahren, auch die Blaskapelle lädt Flüchtlinge auf. Bauern
gehen rufend auf und ab: "Wer will nach Rust?" Jenseits des Gittertors
warten die "Weißhemden" auf den Dienstschluß. Eine
junge Frau führt die Tochter an der Hand, spaziert seelenruhig an
den ermüdeten Beamten vorbei. Der Vorgesetzte in Zivil versucht diese
zu beruhigen: "In einer halben Stunde ist alles vorbei, dann sperren
wir zu." Ob er weiß, wie viele DDR-Bürger über die
Grenze sind? "Was? Hier doch nicht!" Die Morgenblätter hätten
doch veröffentlicht, daß das Passieren der Grenze ohne Paß
verboten sei. Der Berischterstatter zeigt ihm den Paß: kein Stempel.
"Moment, dann muß ich Sie zurückschicken! Sind Sie von
Sopron oder aus Österreich gekommen?" An diesem Tag hat die Grenzwache
den Überblick verloren. Oder nicht gesucht?
Copyright © 1997.,
ISE, Sopron |