DIE ZEIT
25. August 1989, Seite 3

Spaziergang in die Freiheit: Ein österreichischer Granzbeamter empfängt DDR-Bürger im Westen (Aufnahme: dpa)

"Mein Gott, vielleicht geht's diesmal gut"
Ein Picknick bot die Chance - wie Hunderte bei Sopron in die Freiheit flüchteten

(Von Michael Schwelien)
Sopron, im August
Ist es ein aufmunterndes Lächeln, das über das Gesicht des ungarischen Grenzers huscht? Plötzlich steht er auf der Anhöhe vor den Schlehenbüschenl, weist die Fußgänger nach links auf den grasbewachsenen Weg, die Autos nach rechts auf die Lehmstraße entlang des Maisfeldes, so als müsse er hier, 500 Meter vor dem letzten Grenzzaun, den Verkehr regeln. Oder ist es nur ein wissendes Grinsen: Aha, ich kenne eure Absicht, aber es wird nicht gelingen? Fünf Kilometer war die Flüchtlingsgruppe marschiert. Niemand hat sie aufgehalten, seit sie den dreifachen Zaun untem im Tal hinter sich ließ. Der Grenzer im weißen Blouson ist der erste Mensch im Sperrgebiet, der sich ihr in den Weg stellt. Bewaffnet ist er nicht, und er hält niemanden auf. Er steht nur da, zeigt mit den Händen nach links und rechts, sagt kein Wort. Nicht viel anders die drei Soldaten hinter der Biegung. Sie sitzen in ihrem Geländewagen, drohen nicht, feixen nicht, reden nicht. Doch dann vor dem Tor, das hinter der Kuppe des Hügels auftaucht, da stehen sie: ein Dutzend uniformierte Grenzer, zwei Zivile. Also doch eine Falle. Links und rechts des Tores dichter Wald. Die Wachleute sind so postiert, daß kein Passieren möglich ist. Das Tor, mannshoch und mit Stacheldraht durchflochten, ist geschlossen. Der Treck stoppt. Außer dem Kreuchen der DDR-Flüchtlinge ist kein Laut mehr zu vernehmen. Einem Meter von Österreichs Grenze, vor der Freiheit, und nun dieses. "Pässe", fordert einer der Grenzer. Grüne, bundesdeutsche Pässe haben die meisten in der Tasche, sie wurden ihnen in Budapest ausgestellt. Doch was nützen sie hier? Es fehlen die Visa und Einresestempel. Also ist auch keine legale Ausreise möglich. Kaum vernehmbar sagt eine Stimme in der Menge: "Einfach weitergehen". Als sei es das selbstverständlichste auf der Welt. Zehn, zwölf Hände greifen an den Grenzern vorbei, drücken das Tor auf, eine Frau fällt, die Nachdrängenden stolpern über sie. "Los, los", rufen jene in der dritten und vierten Reihe, die nicht sehen können, was vorne passiert. "Laßt uns raus".


Schießen oder wegschauen

Die erste Welle fängt an zu rennen. Die Menschen merken gar nicht, daß sie längst hinter dem österreichischen Schlagbaum und dem Schild "Staatsgrenze" sind. Für die zweite Welle aber wird Spalier gebildet, sie wird beklatscht - von Österreichern, die gerade ankommen, um das "Paneuropäische Picknick" auf der ungarischen Seite zu besuchen. Ein Spielmannszug formiert sich, Pferdekutschen fahren auf, die ungarischen Grenzer ziehen, während nach Norden die DDR-Flüchtlinge an ihnen vorbeihasten, ihre Stempel aus den am Gürtel getragenen Kissendosen, drükken den nach Süden wandernden Festteilnehmern Einreisegenehmigungen in die Pässe. Einer der ersten ist Franz Schindler, Bürgermeister von Mörbisch am Neusiedler See. Die schmalen Schlitze seiner Augen zwinkern lustig im heurigroten Gesicht, da er sagt: "Wir sind überrascht, daß sie die Flüchtlinge einfach passieren lassen." Er gibt vor, keine Zweifel zu haben: "Es war eine menschliche Tat des ungarischen Hauptmanns." Ist es nur eine humane Geste? Oder ist die Wache schlicht hilflos angesichts der Menschenmasse? Oder handelt sie vielleicht auf Befehl von oben? Offiziell will die Regierung nichts mit dem "deutsch-deutschen Problem" zu tun haben. Da liegt der Schluß nahe, daß sie sich eines Teils der Sorgen durch Toleranz entledigen wollte. Für die Grenzpatrouillen gibt es oft nur zwei Möglichkeiten: schießen oder wegschauen. Drei Tage nach der Massenflucht von Sopron nach St. Margarethen offenbart sich ihre Entscheidungsnot. Zwei Nachrichten vom Dienstag. Die ungarische Nachrichtenagentur MTI zitiert den Hauptmann István Szõke. Grenzwächter würden Menschen, welche die Grenze unerlaubt überschreiten, "auch in Zukunft human" behandeln. dpa meldet: "Ein DDR-Flüchtling ist am Dienstag bei einem Fluchtversuch getötet worden. Die Behörden in Budapest sprachen von einem Unfall - bei einem Handgemenge habe sich ein Schuß gelöst." Zu der Gewissensnot der einzelnen Beamten kommt das Dilemma der ungarischen Regierung. Einerseits ist sie der DDR vertraglich verpflichtet, Gesetzesbrecher zur Aburteilung auszuliefern, und dazu zählt "Republikflucht". Andererseits will sie es sich nicht mit der Bundesrepublik verderben. Diese ist nach der Sowjetunion der zweitgrößte Handelspartner der Volksrepublik. Im vergangenen Jahr importierte Ungarn Waren im Wert von 65 Milliarden Forint (2,1 Milliarden Mark) aus Westdeutschland. Zwar macht die Liberalisierung der Wirtschaft Fortschritte. Weder in Budapest noch auf dem Lande herrschen Mangel. Im Gegenteil: Das Angebot auf der Budapester Fußgängerzone Váci utca kann sich fast mit dem auf der Düsseldorfer "Kö" messen: und die Läden allerorts strotzen vor Gemüse, Obst, Brot und Fleisch. Doch 1988 verlangsamte sich das Wachstum von zuvor 1,5 Prozent jährlich auf 0,5 Prozent, während die Inflation auf sechzehn Prozent anstieg. "Erstklassige Büroflächen" bietet ein Plakat in deutscher Sprache mitten in Budapest an. Denn Ungarn benötigt Kapital, wenn es, wie Ministerpräsident Miklós Németh unlängst sagte, "ein Land von Hunderttausenden Klein- und Mittelbetrieben" werden will. Wer, wenn nicht die bundesrepublikanischen Betriebe, sollte es aufbringen? Man muß nicht dabeigewesen sein, um sich vorzustellen, wie das ungarische Außenministerium vergangene Woche dem deutschen Gesandten in Budapest beschied, als dieser wegen des Flüchtlingsproblems einbestellt wurde. Augenzwinkernd dürfte der Ministeriumssprecher den Diplomaten aufgefordert haben: Sie sind unser wichtigster Geschäftspartner, schlagen Sie uns etwas vor, wir machen mit. Man kann sich überdies denken, daß der Bonner Diplomat keine kurzfristigen Lösungen azubieten hatte. Indiz: Die Gespräche am Montag und Mittwoch zwichen Außenminister Gyula Horn und Staatsekretär Jürgen Sudhoff, über die Stillschweigen vereinbart wurde, brachten außer Verbindlichkeitsformeln bischer keine Ergebnisse. Denn, Fluch früherer Verträge: Die Bundesrepublik hat ihren Handlungsspielraum selber eingeengt. Bereits 1987 schlug Ungarn vor, die Visapflicht zwischen den beiden Ländern abzuschaffen. Bonn lehnte ab, wegen "mangelnder Zustimmung" der EG-Partner, besonders Frankreichs. Ungarn erneuerte den Vorschlag in diesem Jahr. Wieder berief sich Bonn auf das Abkommen von Schengen mit Frankreich und den Benelux-Ländern, das die Visamodalitäten mit anderen Staaten regelt. Gäbe es keine Visapflicht für Westdeutsche in Ungarn, dann könnten die DDR-Flüchtlinge, denen jetzt bundesrepublikanische Pässe in der Sakristei der Kirche von Zugliget ausgestellt werden, wesentlich leicher ausreisen. Zwar fehlte ihnen immer noch ein Einreisestempel, zwar wüßte jeder ungarische Grenzer, daß der Inhaber eines in Budapest im August ausgestellten Passes vermutlich ein DDR-Flüchtling ist. Aber es fiele ihm doch erheblich leichter, die Seiten zu überblättern, zumal Ungarn bei der für den Herbst geplanten Strafrechtsreform illegale Grenzübertritte zu bloßen Ordnungswidrigkeiten herunterstufen will. Ein "unerlaubter Grenzübertritt" wäre dann zu ahnden wie Falschparken.


Aus allen Schichten

In diese Richtung jedenfalls dachte laut jener Sprecher des ungarischen Außenministeriums, der einen westdeutschen Reporter im marmorbelegten Foyer des Amtes unter der Bedingung empfing, daß sein Name nicht genannt werde. Unter einer Videokamera und einem Stilleben sozialistisch-realistischer Rosen gab der witzig plaudernde Mann ("In Ungarn ist heute alles möglich, man weiß nur nicht, ob man zum Ziel kommt.") einen weiteren Hinweis: "Da wird doch dieses 'Paneuropäische Picknick' am Grenzzaun bei Sopron stattfinden, bitt'schön, das Amt ist daran nicht beteiligt, Sie müssen die Veranstalter fragen - diese finden Sie in der Ó Utca. Zwei Fahnen des "Demokratischen Forums" weisen auf das hinter einem Zaun verstechkte Gebäude der Oppositionsgruppe. Ein achtsprachiges Faltblatt lädt alle "kleinen Menschen", deren Wunsch das "freie, friedliche Europa ist", auf Samstag, den 19. August, an eine "Stelle des früheren Eisernen Vorhangs". Das eingelegte Beiblatt nennt die Schirmherren der Veranstaltung, den Europa-Parlamentarier Otto von Habsburg und den reformfreudigen Staatsminister ("Die letzten vierzig Jahre waren ein Irrtum.") Imre Pozsgay. Anderntags an der Zugliget-Kirche wird das Picknick zum Hauptgesprächsthema. Das Frühstück ist gerade verteilt worden. Auf dem Platz neben dem Heim für schwrerziehbare Mädchen bauen die Helfer vom Malteserorden neue Zelte auf. Über 450 Essen geben sie an diesem Tag für DDR-Flüchtlinge aus. Hinter der Kirche bilden Neuankömmlinge brav drei Schlangen: eine fürs Beratungsgespräch, eine fürs Handgeld, eine für die Paßausgabe. Die Frauen und Männer, die den Flüchtlingen hier helfen, tragen ebenfalls das Erkennungszeichen des Ungarischen Malteser-Caritas-Dienstes, sind aber in Wahrheit deutsche Konsular- und Botschaftsbedienstete, die sozusagen in ihrer Freizeit in die Rolle des schristlichen Ritters schlüpfen. Die meisten, die im Park ausharren, sind jung. Sie kommen aus allen Schichten: Ärzte, Handwerksmeister, Studenten. Sie tragen in der Hitze - es herrschen 36 Grad - Bikinis und Badehosen. Zum Ausgehen ziehen sie sich so westlich an wie möglich: Bermudas und buntbedruckte T-Shirts. Nirgendwo sind die Grau- und Grüntöne der Kirchentage zu sehen, nirgendwo die weißen Tauben der Friedensbewegung. Zwar sprechen alle von der "Freiheit", doch bald kommen sie auf Konkretes. Findet man schneller Arbeit in Bayern oder in Baden-Württenberg? Wie lange dauert eine Umschulung? Was kostet ein gebrauchter BMW? Kämen sie aus Sri Lanka oder Nigeria, dann wären sie unweigerlich abgestempelt: Wirtschaftsflüchtlinge.


Stiller Exodus

Ganz ähnlich verlaufen auch die Gespräche mit DDR-Bürgern, die im Osten bleiben wollen. Tausende zelten auf den Campingplätzen Budapests und am Plattensee. Aber Urlaub? Neben den Österreichern, Holländern und Westdeutschen sind sie die "Hungerleider". Das Geld, das sie umtauschen dürfen, reicht gerade für zwei Tankfüllungen Benzin. Essen und Trinken müssen sie mitschleppen. Vergnügen ist nicht. Die Ungarn, auf Trinkgelder und Devisen aus, lassen sie nicht einmal in die Discos hinein. Ein Ehepaar aus Leipzig mit zwölfjährigem Sohn erzählt, weshalb es nicht an Flucht denkt. "Wir haben eine Wohnung, einen Garten, einen Trabbi; es geht uns gut, ob wir es drüben noch einmal schaffen, das galuben wir nicht." Sie ist Lehrerin, er Chemiker; sie ist vierzig, er etwas drüber. Ob da noch ein Neuanfang klappt, ob der Sohn einen Studienplatz bekommt - nein. Mehr Selbstvertrauen besitzen jene im Notlager bei der Kirche. Kerstin Lange, Konditorin, und ihr Freund, Thomas Metzig, Elektrikermesiter, kommen aus dem Erzgebirge. Unter das Dach ihres zwanzig Jahre alten Trabant hatte er einen Plastikhimmel eingezogen, um dort ihre Papiere zu verstecken. Darunter auch der nicht bewilligte Ausreiseantrag vom 1. November 1988. Die Luftverschumtzung und Sorge vor Umweltkrankheiten waren für sie die Gründe. Daß es derartiges auch im Westen gibt, stört sie nicht. "Wir wollen an den Bodensee". Und die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, schreckt die nicht? "Wir können arbeiten, wir sind jung." Aber das eigentliche Gesprächsthema jenes Freitags vergangener Woche ist, wie gesagt, das "Paneuropäische Picknick"'. Zuvor waren nur Gerüchte über die Veranstaltung kursiert. Jetzt wird das Flugblatt herumgereicht. Manche bleiben trotzdem mißtrauisch. Jens Löhnert aus Leipzig etwa sagt erst, er fahre hin, überlegt noch einmal, spricht nun von einer Falle, ändert seine Meinung ein zweites Mal, möchte dann doch mitfahren. Er Fertõrákos auf der ungarischen Seite des Neusiedlersees war sein zweiter Fluchtversuch gescheitert. Mit Hilfe eines Bauern aus der Gegend war er in einem Graben unter dem Dreifachzaun durchgeschlüpft. Als er seinen Schalfsack auf den Stacheldraht der letzten Absperrung geworfen hatte und hinaufkletterte, fielen zwei Schüsse, ein Grenzer zog ihm am Fuß herunter. Er wurde freundlich behandelt, in der Haftzelle durfte er sich auf Video den Film "Robin Hood" ansegen, die Dolmetscherin, die ihn tags drauf zum Verhör begleitete gleich: "Es passiert Ihnen nichts". Beim dritten Fluchtversuch, diesmal nach Süden, lernte er andere Grenzer kennen. Auf dem Feld, wo er gestellt wurde, malträtierten sie seinen Kumpel mit Fußtritten ins Gesicht. Jens Löhnert hatte sich ehedem als Schweißer auf drei Jahre Arbeit in der Sowjetunion an der Erdgaspipeline verpflichtet. Für den Einsatz in Rußland und Sibirien wurden ihm Vergünstigungen in Aussicht gestellt. Für drei Jahre in der Fremde ("Dort wohnen sie noch in Lehmhütten, die mit Gras abgedichtet sind".) sollte die Wartezeit beim Autokauf auf 24 Monate verkürzt, für vier Jahre zudem eiene "angemessene" Wohnung bereitsgestellt werden. Doch nichts davon, als er wieder nach Leipzig kam. Der ruhige junge Mann, dem Bild am Montag andichtete, er habe nach der erfolgreichen Flucht immer wieder "Freiheit, Freiheit" gerufen, zweifelt bis zum letzten Moment, daß sein vierter Fluchtversuch gelingen wird. Am frühen Sonnabend beginnt ein stiller Exodus vom Zugliget-Gelände. Viele haben in der Nacht davor ihr Zelt an andere vermacht, "falls wir bis morgen nicht wiederkommen". Grendgedanken jener, die sich zum Aufbruch entschlossen hatten: Die Teilnahme am Picknick ist völlig legal; wenn wir dann in großer Zahl auf die Grenze zugehen, können uns die Wachen eigentlich nur stoppen, indem sie mit Machinenpistolen auf uns halten; doch das werden sie unter den Augen der Presseleute nicht wagen; hoffentlich. Doch was passiert bei Festnahmen einzelner? Was bedeutet jenes weiße Blatt, des angeblich in den Paß gelegt wird, was der Stempel, den die Polizei den in Ungarn straffällig gewordenen DDR-Bürgern verpaßt? Löhnert: "Mir ist es egal. Zwei Jahre bekomme ich für die Republikflucht, zwei dafür, in die Bundi-Botschaft gegangen zu sein, zwei weitere für das Gespräch mit dem westlichen Reporter - es gibt kein Zurück." Dabei hatte sich das weiße Blatt als Zeitungsente erwiesen. Über den Stempel, überhaupt über die Anweisungen an die Grenzwachen hatte jener alerte Sprecher des Außenministers auch einige Hinweise gegeben. Den Wachtposten sei strikt befohlen worden, nicht zu schießen. "Wer keinen Widerstand leistet, braucht keine Angst zu haben". Der Stempel und ein Vernehmungsprotokoll seien indes nötig. "Sonst könnten ja einfach unsere Leute jamenden zu Unrecht verdächtigen, um ihn einzuschüchtern und ihm 2000 Forint abzupressen". Doch er wisse, daß viele Grenzer gar nicht auf einer Vernehmung beständen. "Es kommt oft auf jenen nur Bruchteile von Sekunden währenden Augenkontakt zwichen Wachmann und Flüchtling an, jene letzte menschliche Begegnung", hatte er gesagt. Während der Fahrt nach Sopron wurden sie trotzdem alle still. Auf der Autobahn hatte es noch Abwechslung gegeben. Man erkannte andere wieder: "Das ist der Arzt aus dem Nebenzelt, dort im Lada". Um sich Mut zu machen, hatte eine Fünfergruppe lauhals und voller Ironie das Arbeiterlied "Brüder zur Sonne, zur Freiheit" gesungen. Auf der kurvigen Landstraße zwischen Gyõr und Sopron aber kommt ihnen bald kein Lied mehr über die Lippen. In Sopron weisen Pappschilder den Weg zum Picknick. Weshalb duldet es die Regierung eigentlich? Just vor wenigen Tagen hat die kommunistische USAP bei Nachwahlen in der Provinz dreimal an Kandidaten der Opposition verloren. Die Kommunisten erhielten weniger als 22 Prozent der Stimmen. Das österreichische Nachrichtenmagazin Profil veröffentlichte vergangene Woche die Ergebnisse mehrerer repräsentativer Umfragen. Danach sind landesweit nur noch 19 Prozent der Ungarn bereit, USAP zu wählen, Anfang Mai waren es noch 28 Prozent. Andererseits verlieren den Sonntagsfragen zufolge die Oppositionsgruppen "Demokratisches Forum", "Bund Freier Demokraten" und "Jungdemokraten" ebenfalls ständig an Popularität. Ihre Wählerzustimmung sank von zusammen 24 Prozent auf zusammen 17 Prozent. Politische Apathie: Bei den erwähnten Nachwahlen gingen in dem Ort Kiskunfélegyháza so wenige Bürger zur Urne, daß die Wahl ungültig blieb - und dies zum zweiten Mal. Da hat bei der Präsidentschaftswahl, welche die USAP möglischst rasch anberaumen will, nur ein Charismatiker eine Chance. In den Reihen der Opposition findet sich kein ungarischer Lech Walesa. Bei der regierenden USAP fällt nur ein Name: der des Reformers Imre Pozsgay. Daß er Schirmherr des Picknicks ist, läßt die Flüchtlinge hoffen, der Grenzgang werde gelingen. Hinter dem berühtigten Gefängnis von Sopron biegt die Kolonne von inzwischen bald 150 Ladas, Wartburgs und Trabant links ab. Brave Deutsche, die sie nun einmal sind, parken sie ihre Autos in Reih und Glied auf einer Wiese. Der hohe Wachturm scheint unbesetzt. Zwei ungarische Fahnen wehen am Postenhäuschen. Neben der Leiter warnt ein Schild in fast korrektem Deutsch: "Vorsicht Lebensgefahr. Aufsteigen nur auf eigene Werantwortung". Noch hat das Picknick nicht begonnen. Die Straße durch die Absperrungen ist frei. Es beginnt zu regnen. Etliche Flüchtlinge kehren noch einmal zurück, holen Schirme und Regenmäntel aus den Autos. Fünf, sechs Wagen überholen den Zug der Marschierenden, setzen sich an die Spitze, fallen wieder zurück, rasen erneut nach vorne. Einer, mit Wuppertaler Nummernschild, scheint unzweideutig vom Stasi zu sein. Auf Zuruf eines Marschierenden zeigt der Fahrer sofort einen nur drei Monate alten Personalausweis der Bundesrepublik hervor. In seiner Erregung vergißt er, daß er damit nur schwerlich hat nach Ungarn einreisen können. "Und die Club-Zigaretten (aus der DDR)", höhnt ein Flüchtling, "die kaufst du wohl auch in der Bundesrepublik!" Auch die anderen Autos machen Angst. Woher sollen die DDR-Flüchtlinge wissen, daß der graue Volvo mit dem Budapester Nummernschild nicht wie bei ojnen üblich dem Staatssicherheitsdienst gehört, sondern von stern-Reportern, gemietet wurde? Und die Photographen von Bild scheinen die Aktion ihres Blattes "Deutsche helfen Deutschen" völlig vergessen zu haben. Sie schießen Photos, ohen sich drum zu kümmern, daß etliche der Flüchtenden Repressalien gegen ihre in der DDR zurückgebliebenen Angehörigen fürchten, wenn die Zeitungen demnächst in Ost-Berlin ausgewertet werden. Links an einer Mauer vorbei, einen Kilometer weiter rechts durch ein Gehöft, zwischen Pappeln eine lange, gerade Strecke den Hügel hinauf, rechts von einem weiteren Hof - niemand weiß genau, wo es langgeht, sie laufen einfach auf gut Glück immer weiter. "Mein Gott, vielleicht geht es ja diesmal gut", sagt Jens Löhnert. "Es gibt kein Zurück", antwortet Thomas Metzig, die Hand seiner Freundin fassend. Ganz oben vor dem Wald stehen kleinere Wachtürme. Sind auch diese unbesetzt? Keiner weiß es. Das Tempo wird trotzdem immer schneller. Mütter und Väter, die Kinder auf den Schultern, kommen kaum nach, Ältere auch nicht. Als Kerstin Lange, Thomas Metzig und Jens Löhnert am Ende fast rennen, rufen sie zum Abschied: "Jetzt könnt ihr unsere Geschichte drucken - falls wir es schaffen". Sie schaffen es. Einem aber, einem 39jährigen Mann, brechen Anstrengung uns Strapazen das Herz. Wenige Meter hinter der Grenze bricht er zusammen. Die paar Sekunden Freiheit zahlt er mit dem Tod. Zwei Ungarn in Zivil leiten den Wegschau-Einsatz am Tor. Einer radebrecht abseits seiner Gruppe: "Ist deutsches Problem - ich kümmere nicht". Der andere zischelt einem Reporter zu: "Hau ab, du Scheißer".


"Völlig ahnungslos"

Fünf Kilometer entfernt am ersten Wachturm beginnt das "Paneuropäische Picknick". Dreißig Meter von dem Sandstreifen, der geschaffen wurde, damit fluchtspuren leichter zu erkennen sind, tanzt eine Trachtengruppe. Winzer schenken Haurigen aus. Am Wachtrum bilden sich Warteschlangen. Junge Pioniere in Uniform helfen alten Mütterchen, Stücke des Eisernen Vorhangs mit Zangen abzuzwacken. Bester Laune spricht Laslo Vass, stellvertretender Leiter des Staatsministeriums von dem "historischen Tag", an dem Ungarn die "Völkerfreundschaft vertiefte". Frage: "Hatten Sie geahnt, Herr Vass, daß es heute zu einer Massenflucht kommen würde?" Antwort: "Nein, wir waren völlig ahnungslos". Vielleicht 900 Flüchtlinge schaffen am Sonnabend den Weg nach Österreich. Am Abend aber schon, nach Einbruch der Dunkelheit, werden viele festgenommen. Doch Tag für Tag finden auch danach 150, 200 DDR-Bürger den Weg zur bundesrepublikanischen Botschaft in Wien. Schon am Dienstag gelingt wieder eine weitere Massenflucht. Und am selben Tag zeigen erste Indizien, daß der getötete Kurt-Werner Schulz womöglich Opfer eines Schusses wurde, der sich versehentlich aus einer Maschinenpistole löste. Nur eine Patronenhülse wurde sichergestellt; die ungarischen Behörden informierten sofort die Botschaft der Bundesrepublik. Am Montag schon waren die Autos mit den DDR-Kennzeichen von der Wiese vor dem Picknickplatz verschwunden: abgeschleppt zwecks Versteigerung. Darauf jedenfalls war die Regierung Ungarns vorbereitet.


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