SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Dienstag, 22. August 1989, Seite 3


Sopron: "Sie haben versucht, illegal die Grenze zum Westen zu überqueren."
Nach jedem Scheitern neue Hoffnung schöpfen
Die Erlebnisse einer jungen Familie aus der DDR, deren Flucht nach
Österreich am Wochenende von ungarischen Grenztruppen verhindert wurde

(Von Christoph von Marschall)
Sopron, 21. August - Nein, das wird kein Spaziergang in die Freiheit. Für den dreijährigen Fabian hat das Indianerspiel nun am zweiten Tag seinen Reiz verloren. Auch wenn da plötzlich ein aufgeschreckter Hase aus dem Graben, den wir entlanggehen, herausschnellt und hakenschlagend im Feld verschwindet. Wenig später stoßen wir am Waldrand auf den Weg, der dann über freies Feld und ein Gehöft im langen Linksbogen zur österreichischen Grenze führt. Dort hinten ist das Tor, das für Hunderte von DDR-Bürgern amn Samstag, dem ersten Tag des Paneuropäischen Picknicks bei Sopron, zum Tor in den Westen wurde. Die Flüchtlinge haben die jungen ungarischen Grenzer keineswegs "überrant". Vielmehr haben die Posten oft einfach weggeschaut und so den Weg freigegeben. Auch Gina und Thomas aus Magdeburg waren mit Fabian und der erst zehn Wochen alten Lore einen Tag zuvor, am Samstagabend, schon auf der Höhe des Tores gewesen. Ein Stück weiter rechts vom Tor waren sie durch ein Loch im Zaun hindurchgestiegen, noch ein paar Schritte gegangenf und wähnten sich schon in Österreich. Wegen der Kinder pausierten sie gerade, als in der Dämmerung plötzlich eine ungarische Streife hinter ihnen stand und sie zurück auf die andere Seite das Zaunes brachte. "Das tat denen richtig leid, daß sie uns erwischt haben", meint Thomas. Später in der kleinen Kaserne der Grenztruppen hat ihnen ein Offizier zu verstehen gegeben, daß sie zu spät gekommen seien - "mehr als 300 sind schon rüber". Aus der Traum von "Dickmannsland" für Fabian, der sich gut daran erinnert, daß Papa ihm von seinen Westreisen - natürlich immer ohne Familie - die Negerküsse der Firma Dickmann mitgebracht hatte, die im real existierenden deutschen Sozialismus nicht zu haben sind.


Kriegsrat im Zeltlager

Die Nachrichten von der gelungenen Massenflucht gingen im Zeltlager des ungarischen Malteser-Caritas-Dienstes (UMCD) in Budapest um wie ein Lauffeuer. Plötzlich tauchten hier von irgendwoher photokopierte Skizzen des Picknick-geländes und des daran anschließenden Grenzstreifens auf. Und es hieß, daß der Weg durch das Loch im Zaun noch offen sei. Thomas wurde von weiteren "Verlierern" umringt, die es zuvor an einer anderen Stelle versucht hatten und erst spät in der Nacht nach Verhören und Ermahnungen bei den Grenzbehörden wieder in Budapest eingetroffen waren. Im Kreise der anderen mußte er die Skizze kommentieren, Routen vorschlagen: "Der Wachturm ist reine Kulisse. Der ist unbesetzt. Von hier sind es noch Kilometer bis zur wirklichen Grenze. Das haben wir gestern auch gedacht, daß wir schon ganz nahe dran sind." Dann zeigte er auf die Skizze und fuhr fort: "Hier hatten sie Posten stehen und keinesfalls dürft ihr euch links halten. Dort ist die Kaserne der Grenztruppen." Nach diesem Kriegsrat bricht die Familie, gemeinsam mit dem Journalisten, wieder in Richtung Grenze auf. Sie ist wieder spät dran. Es dauert, bis man einen Mietwagen aufgetrieben hat, bis die Kinder verstaut sind, und bis man dann endlich die 240 Kilometer von Budapest nach Sopron hinter sich gebracht hat. Als wir am späten Sonntagnachmittag das Picknick-gelände erreichen, liegt es leer und verlassen. Rechts und links am Straßenrand stehen vereinzelt Trabis und Wartburgs. Zum Teil sind die Türen und Kofferraumdeckel geöffnet. Ein paar Meter weiter taucht plötzlich ein Grenzer auf dem Feldweg auf. Wohin wir wollen? "Zu dem Paneuropäischen Grenzfestival, zu dem Imre Pozsgay und Otto von Habsburg eingeladen haben. Das soll doch heute weitergehen." Nein, mit dem Auto könnten wir nicht weiterfahren, bedeutet er uns. Also umkehren. "Immerhin sind es jetzt nur noch ein paar Kilometer", tröstet Thomas seine Frau. "Gestern haben wir den Fehler gemacht, daß wir das Auto, wie uns geraten worden war, sehr früh stehengelassen haben. Wir waren vom Tragen der Kinder im regennassen Wald schon fix und fertig, ehe wir ins eigentliche Grenzgebiet kamen." Es geht zwei Kilometer zu Fuß durch ein Wäldchen, einen tiefen Graben entlang, der zwischen zwei Feldern Sichtschutz bietet. Dann hinein in ein zweites Waldstück, wo wor auf den Feldweg zur Grenze stoßen. Plötzlich Motorengeräusche. Wir ducken uns in die Büsche unter den Laubbäumen. Ein tarnfarbener Jeep fährt vorbei, entfernt sich wieder. Jetzt müssen wir durch offenes Gelände, das von den Wachtürmen aus gut einsehbar ist. Und hier spätestens wird uns klar: Wen die Ungarn an dieser Stelle nicht durchlassen wollen, der kommt hier auch nich durch. "Gestern hat uns der Bauer von dem Gehöft da vorn das Stück in seinem Auto mitgenommen", sagt Thomas. Aber heute bleibt nur der Weg zu Fuß - und die Hoffnung, daß uns die Ungarn nicht sehen wollen. "Nach dem Gehöft macht die Straße eine Rechtskurve und dann einen langgezogenen Linksbogen, und da drüben ist das Tor." Noch eineinhalb Kilometer bis Österreich. Als wir die Hälfte des freien Geländes hinter uns haben, hören wir wieder Motorengeräusche. Jetzt können wir nur noch stru weiterlaufen und hoffen, daß es der Privatwagen eines Bauern ist. Unsere Hoffnung geht fehl, ein grauer Dacia stoppt neben uns. "Wohiiin?", fragt eine Stimme nicht unfreundlich. "Aah, gestern schon Probleme" - eine Familie mit einem zwhnwöchigen Baby läßt sich leicht wiedererkennen. Ob der zivil gekleidete Beamte uns glaubt, daß wir nur zum Festival wollen und Thomas dem Journalisten bei dieser Gelegenheit die Story der mißlungenen Flucht vor Ort erzählen will, läßt er nicht erkennen. Wahrscheinlich ist es ihm auch egal. Längst haben sie unserer weißen Lada im Wald gefunden. Er fragt uns nach der Nummer, aus der wohl hervorgeht, daß es sich um einen Leihwagen handelt, läßt sich Autoschlüssel und Papiere zur Bestätigung zeigen. Er ist jedenfalls damit einverstanden, daß wir zum Auto gehen und nach Budapest zurückfahren wollen. Der Dacia entschwindet, eine leichte Staubwolke hinterlassend, in Richtung Grenze. Schon tags zuvor war die Familie zweimal zurückgeschickt worden, ehe sie dann beim dritten Versuch mit einem Jeep in die nahe Kaserne und dann weiter in das regionale Hauptquartier der Grenzpolizei nach Sopron gebracht wurde. Warum also jetzt nich weiter? Die Entscheidung nimmt uns eine Streife der Grenztruppen ab, die sich nicht dafür interessiert, daß wir ihnen erzählen, wir seien nach der Absprache mit dem Zivilbeamten bereits auf dem Weg zurück zum Auto und nach Budapest. Wir müssen die Pässe vorzeigen, die beiden grünen westdeutschen Pässe von Thomas und Gina sind erst in den letzten Tagen in Budapest ausgestellt worden und in ihnen fehlen auch die rosa Visablätter und die Einreisestempel. Sofort umstellen uns die jungen Wehrpflichtigen und nesteln an ihren Schlagstöcken. Aber dabei grinsen sie, denn Gina beginnt vor ihren Augen den Säugling zu stillen, der Hunger bekommen hat. Nur der Offizier schaut weiter grimmig. Er scheint es satt zu haben, in seinem Revier Tag und Nacht Flüchtlinge aufgreifen zu müssen und dabei nicht wirklich zu wissen, ob Budapest wünscht, daß er sie durchläßt, nur zurückschickt oder erst nacht Verhör, Protokoll und Verwarnung entläßt. Die Abendstunden vergehen in einem mit Liegen, Tisch und Stühlen ausgestatteten Raum in einer kleinen Kaserne an der Grenze. Man könne uns nicht verstehen und müsse erst einen Dolmetscher auftreiben, wird uns bedeutet. Ganz freundlich werden Cola, Tee, Brot, Salami und Paprika gebracht. Solche Szenen laufen hier wohl jeden Tag wiele Male ab. Auf der Männertoilette ist eines der Pissoirs durch ein Schild mit ungarischer Aufschrift gesperrt, in Großbuchstaben hat irgend jemand in holprigem Deutsch "Nich Gut" darübergeschrieben. Immer mehr Sterne zieren die Schulterklappen der Besucher, welche sich radebrechend danach erkundigen, ob uns nicht fehle, ob wir mehr Essen oder Trinken wollten. Einer gibt zu verstehen, daß die Familie bei der Fremdenpolizei in Budapest doch ein Visum erhalten könne. Freilich "nix gut für Bundesrepublik". Er meint wohl, daß es nur den Aufenthalt mit dem grünen Paß legalisieren würde, nicht aber die Ausreise nach Westen erlaube. Nein, dei komplizierte ungarische Adresse will er keinesfalls mit eigener Hand aufschreiben Allenfalls Buchstabe für Buchstabe diktieren. Aber wir dürften nicht sagen, daß er sie uns gegeben habe. Es ist bereits zehn Uhr abends, als der Dolmetscher, ein junger Wehrpflichtiger aus dem nahen Dorf, eintrifft und mit uns nach Sopron ins regionale Hauptquartier aufbricht. Längst hat ein Offizier den weißen Lada aus dem Wald geholt. Die Unterredung im Hauptquartier dauert nur eine Viertelstunde. "Sie wissen, warum Sie hier sind. Sie haben versucht, illegal die ungarische Grenze nach Westen zu überqueren", sagt ein hoher Offizier. Da widerspricht der Journalist: "Wir sind zu dem Festival gekommen. Die junge deutsche Familie wollte die Geschichte ihrer mißglückten Flucht noch einmal vor Ort erzählen." Wir hätten uns bereits auf dem Rückweg befunden, als uns die Streife aufgegriffen habe. Sofort entschuldigt sich der Offizier. Seine Leute hätten sich falsch verhalten, weil sie unsere Erklärung nicht verstanden hätten. Ob wir nun Anzeige gegen sie erheben wollten? Natürlich wollen wir nicht. Wir sind hundemüde und haben noch 240 Kilometer bis Budapest. Auch dieser Grenzer gibt uns - ganz privat, versteht sich - die Adresse der Fremdenpolizei. Ob man dort eine Aufenthaltserlaubnis oder ein Visum bekommen könne, das zur Ausreise berechtigt, will Thomas wissen. Der Offizier blickt an die Decke, hebt die Arme und sagt: "Probieren". Als wir gegen zwei Uhr nachts wieder im Zeltlager der Malteser in Budapest eintreffen, begegnen wir vielen anderen, denen es ähnlich ergangen war, wie uns. Manche meinen jetzt, es sei unverantwortlich gewesen, mit Skizzen und Gerüchten den Eindruck zu erwecken, die Flucht sei möglich. "Von den Fluchtversuchen bin ich jetzt endgültig geheilt", sagt Gina zum Abschied. "Aber weißt du", ergänzt Thomas, "heute fühlenwir uns viel besser als gestern. Die Adresse mit dem Visum, das ist wieder eine Hoffnung."


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